Bern, 1875 – ein Morgen am Bahnhof

Johanna Rustler

Das Pfeifen der Lokomotive erfüllt die Luft, als ich den Bahnhof Bern betrete. Rauch und Dampf mischen sich in die warme Spätsommerluft, als die mächtige Dampflokomotive Eb 2/4 der Schweizerischen Centralbahn schnaufend in der Bahnhofshalle steht. Der Rauch der Lok legt sich wie ein Schleier über die wartende Menge, während das metallische Stampfen der Maschinen die Atmosphäre belebt. Die Sonne scheint durch die grossen Fenster des Bahnhofs, und die Menschen tragen Sommerkleider und Anzüge. Manche schleppen schwere Koffer, andere halten ihre Billette fest in der Hand. Am Kiosk werden Zeitungen und kleine Snacks verkauft, Reisende eilen durch die Gänge. In der Halle hört man das Klappern der Koffer und das Knarren der Holzsitze. An den von Hand bedienten Schaltern kaufen die Reisenden ihre Billette – eine kleine Reise in die Moderne.

P 0017 neu
Die Züge fahren dampfend in die Berner Bahnhofshalle ein und aus, 1860.

Leo Ruedin – unterwegs in der Holzklasse

Im Holzabteil der 3. Klasse treffe ich Leo Ruedin, einen kräftigen Mann in einfacher, abgetragener Kleidung. Sein Hemd ist grob aus Leinen gefertigt und zeigt deutliche Spuren der Arbeit. Seine dunklen Hosen sind an den Knien ausgebleicht, und die klobigen Lederstiefel tragen die Abnutzung langer Arbeitsstunden.

«Ich bin auf dem Weg von Bern nach Biel, wo ich in einer Uhrenfabrik arbeite», erzählt er und verstaut seinen kleinen Rucksack, der nur das Nötigste enthält, neben sich. Die Bänke in der 3. Klasse sind hart, die Fenster klein. «Meine Fabrik hat mir ein Arbeiterabonnement gegeben. Das kostet nichts, aber ich darf nur zu bestimmten Zeiten mit der Eisenbahn reisen.» Rauch zieht durch die Ritzen der Fenster und Ruedin hustet kurz, bevor er die Schultern hochzieht und sich etwas bequemer hinsetzt. «Hier ist es immer voll, aber der Zug bringt mich schnell ans Ziel.»

Durch die schmutzigen Scheiben des Abteils sind die grauen Backsteinmauern und verwitterten Dächer der Bahnhöfe und Stationen zu sehen, an denen der Zug vorbeirauscht. Die Strecke zwischen der Bundeshauptstadt und Biel wird von der Schweizerischen Centralbahn (SCB) zusammen mit der Bernischen Staatsbahn (BSB) betrieben. Sie ist vor allem auf den Transport von Uhren und Industrieprodukten ausgerichtet. Bereits seit zehn Jahren kann die ab Zollikofen einspurige Strecke vor allem für den Güter-, aber auch für den Personenverkehr genutzt werden. Der tägliche Arbeitsweg gibt Ruedin etwas Zeit, sich von der körperlich anstrengenden Arbeit in der Fabrik zu erholen.

Unbenannt 1

Oben: Arbeiter-Abonnement der Schweizerischen Centralbahn für günstige Fahrten, nur eingeschränkt nutzbar, wie von Leo Ruedin erwähnt, ca. 1890.

Unten: Zeichnung des Luzerner Bahnhofs, Endstation von Ruth Schmids Reise. Der Bahnhof zeigt sich als architektonisches Meisterwerk des 19. Jahrhunderts, 1896.

Ruth Schmid – zweitklassige Familienreise

Ruth Schmid, eine Frau mittleren Alters, sitzt mit ihrer kleinen Tochter Vroni und ihrem etwas älteren Sohn Karl in einem gepolsterten Abteil der 2. Klasse. Sie trägt ihr bestes Sonntagskleid, ein schlichtes, aber gepflegtes blaues Kleid. Das braune Haar hat sie zu einem strengen Knoten gebunden, auf dem Kopf sitzt ein schlichter Strohhut. Neben ihr steht ein kleiner, abgewetzter Lederkoffer mit Geschenken für ihre Schwester in Luzern.

«Wir fahren von Bern nach Luzern, um meine Schwester zu besuchen», erzählt sie und hält Vroni fest an der Hand, während Karl mit den Füssen wippt und neugierig aus dem Fenster schaut. «Das Billett hat 2 Franken gekostet, ein hoher Preis für uns, aber der Komfort ist es wert.» Der weiche Stoff der Sitze und das sanfte Ruckeln des Zuges beruhigen Vroni, die ebenfalls aus dem Fenster schaut. «Guck mal, Mama, die Berge!», ruft sie begeistert.

Die typische Haupteinnahmequelle der Privatbahnen des 19. Jahrhunderts ist der Güterverkehr.

Ruth und ihre Kinder fahren mit der eben erst gegründeten Bern-Luzern-Bahn (BLB), deren neu gebaute Strecke von Langnau im Emmental durch das Entlebuch nach Luzern führt. Finanziert wurde sie vor allem von den Kantonen Luzern und Bern. Diese Linienführung steht in engem Zusammenhang mit dem Bau der Gotthardbahn.

Mit einer Verbindung von Bern über Luzern in die Schweizer Alpen will man sich ein Stück vom Kuchen abschneiden – in direkter Konkurrenz zur mächtigen Centralbahn. Ein mutiges Unterfangen. Ruth und ihre Familie erreichen schliesslich den Bahnhof Luzern, der 1856 erbaut wurde und als eines der architektonischen Meisterwerke der frühen Schweizer Eisenbahngeschichte gilt.

Unbenannt 2

Oben: Güterbahnhof Renens. Ein Halt auf William Burtons Geschäftsreise und ein Beispiel für die wachsende Logistik des Eisenbahnzeitalters, ca. 1900.

Unten: Stütztenderlokomotive Eb 2/4 Nr. 5434, eine spätere SBB-Nummer, erinnert an die mächtigen Maschinen der Schweizerischen Centralbahn. Sie prägte mit Rauch und Stampfen die Bahnhofsatmosphäre, ca. 1902–1904.

William Burton – erstklassige Geschäftsreise mit Urlaubsplänen

Als nächstes treffe ich William Burton, einen wohlhabenden britischen Geschäftsmann, der im luxuriösen Abteil der 1. Klasse sitzt. «Ich bin auf einer Geschäftsreise von Zürich nach Renens», erklärt er und lehnt sich bequem in den weichen Polstern zurück. «Das Billett kostet 10 Franken, aber der Komfort und die Ruhe sind es wert.» Burton trägt einen eleganten Massanzug in dunkelblau, sein glänzender Lederkoffer ist im Gepäckwagen verstaut.

Bevor er in den Zug stieg, hat er sich im Wartesaal der ersten Klasse im Zürcher Hauptbahnhof ausgeruht, einem prächtigen Raum mit hohen Fenstern und schweren Ledersesseln, der 1871 vom Architekten Jakob Friedrich Wanner entworfen wurde. Die neu sechs Gleise führen weiterhin in die Haupthalle, wo auch der Einstieg in die Züge erfolgt. Seit einigen Jahren gibt es Überlegungen, den Bahnhof zu erweitern und die Bahnsteige ins Freie zu verlegen, da die schnell wachsende Stadt immer mehr Fahrgäste bewältigen muss.

«Die Melodien stimmen mich auf meine Geschäfte ein und schaffen eine beruhigende Atmosphäre», sagt er mit einem Lächeln.

Durch die grossen Fenster des Abteils sieht er die Schweizer Landschaft an sich vorbeiziehen – die Hügel des Mittellandes, kleine Dörfer und Felder, die von den Gleisen durchschnitten werden. Für Burton ist die Reise mehr als nur ein Mittel zum Zweck – es ist ein Moment der Ruhe, der ihm die Möglichkeit bietet, sich auf seine Geschäfte vorzubereiten und über zukünftige Projekte nachzudenken. Burton kann es kaum erwarten, nach seiner Ankunft in Renens den Musikautomaten zu bedienen, der ihn jedes Mal aufs Neue begeistert.

«Die Melodien stimmen mich auf meine Geschäfte ein und schaffen eine beruhigende Atmosphäre», sagt er mit einem Lächeln. Wenn die Geschäfte in Renens erledigt sind, will er noch ein paar Tage Urlaub am Genfersee machen und Verwandte besuchen, die in einer prächtigen Villa am See wohnen. «Es ist der perfekte Ort, um auszuspannen und die herrliche Landschaft zu geniessen», sagt er. Die klare Luft, die sanften Hügel mit den Weinberg-Terrassen des Lavaux und der Blick auf die Alpen sind für ihn die ideale Kulisse, um nach der Arbeit abzuschalten und Zeit mit seiner Familie zu verbringen.

Unbenannt 3

Oben: Bahnhof Olten mit einer in den USA gebauten C 2/3. Ein zentraler Eisenbahnknotenpunkt, der die Verbindung zwischen Regionen stärkte, aufgenommen zur Blütezeit der Dampflok, ca. 1860.

Unten: Arbeiter der Jura-Bern-Luzern-Bahn posieren im Depot Biel. Diese Männer hielten die Eisenbahnstrecken in Betrieb, auf denen Reisende wie Ruth Schmid unterwegs waren, 1888.

Urs Meier – im Güterzug durch die Schweiz

Auf dem Bahnsteig daneben treffe ich Urs Meier, einen erfahrenen Lokführer, der gerade seinen schweren Güterzug für die lange Fahrt von Bern nach Basel vorbereitet. Meier, ein Mann mittleren Alters mit wettergegerbtem Gesicht und ölverschmierten Händen, lehnt sich an die massive Lokomotive und nimmt einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.

«Ich fahre seit über zwanzig Jahren», sagt er mit einem müden, aber stolzen Lächeln. «Früher war es einfacher – weniger Vorschriften, weniger Stress. Aber die Züge? Die waren immer so imposant.» Meier zeigt mir seine Maschine: eine mächtige vierachsige Tender-Lokomotive vom Typ Eb 3/4, die den Namen «Belchen» trägt. Sie wurde hergestellt von der Werkstätte der Schweizerischen Centralbahn in Olten – und dies erst noch unter der Leitung des Maschinenmeisters Niklaus Riggenbach. Mit ihren riesigen Rädern zieht das edle Gefährt tonnenweise Fracht über die Schienen. «Früher hätten Fuhrwerke Tage gebraucht, um die Berge zu überwinden», erklärt er. «Heute schaffen wir das in wenigen Stunden.»

Eine Reise durch Zeit und Raum, die den Schweizer Bundesstaat näher zusammenbringt, neue Welten eröffnet und das Alltagsleben der Menschen massgeblich prägt.

Seine Route führt über Olten, dem Netzknoten und Drehkreuz des schweizerischen Eisenbahnsystems, über den Hauenstein, der dank des ersten Juradurchstichs in den 1850er-Jahren Basel mit dem Rest der Schweiz verbindet. Heute transportiert er Kohle und Maschinen, doch die Centralbahn ist auch für den Transport von Lebensmitteln, Textilien und anderen wichtigen Gütern bekannt, die die Schweizer Städte versorgen.

So unterschiedlich die vier Personen auch sind – der Uhrenmacher, die Mutter, der Geschäftsmann und der Lokomotivführer – sie alle teilen das Erlebnis der Eisenbahn, die die Schweiz im 19. Jahrhundert revolutioniert. Eine Reise durch Zeit und Raum, die den Schweizer Bundesstaat näher zusammenbringt, neue Welten eröffnet und das Alltagsleben der Menschen massgeblich prägt.

Seite 6 P A06 0004fr
Das Werbeplakat der Jura-Simplon-Bahn zeigt den Genfersee, ca. 1895.