Die Eisenbahn verändert die junge Schweiz

Marc Ribeli
Vor 1844 gab es in der Schweiz keine Eisenbahn. Ein halbes Jahrhundert später konnte man bereits schienengebunden die Alpen überqueren. Im letzten Beitrag werfen wir ein paar Streiflichter auf die Umwälzungen, die vom Durchbruch der Eisenbahn im 19. Jahrhundert ausgingen.

Motor des Fortschritts

Der Eisenbahnbau kann für das späte 19. Jahrhundert als Leitsektor des Industrialisierungsprozesses in der Schweiz gesehen werden. Er hatte beträchtliche Wachstumseffekte für vorgelagerte Sektoren (Maschinenbau) sowie in nachgelagerte Sektoren (Güter- und Personentransport). Die Bahn erschloss und stärkte den Binnenmarkt und schuf gleichzeitig eine Verbindung in die Nachbarländer und an die Weltmeere. Dadurch konnte sich die kleine, offene Volkswirtschaft der Schweiz verstärkt global ausrichten. Billige Transportwege führten zu einem florierenden Güterverkehr und kurbelten das Wirtschaftswachstum an. Insbesondere per Eisenbahn gut erschlossene Regionen und Städte profitierten davon. Ein Beispiel dafür ist Winterthur, welches bis 1875 mit Anschlüssen nach Romanshorn, Zürich, St. Gallen, Schaffhausen, Singen und Rapperswil zum Bahnknoten avancierte und sich dadurch zur Industriestadt wandelte.

Die Maschinenindustrie stieg zum wichtigsten Wirtschaftszweig auf. So gründete der Engländer Charles Brown 1871 hier die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM). Sie profitierte vom durch die Bahn geförderten industriellen Cluster und belieferte wiederum selbst den Eisenbahnsektor. Über die Jahrzehnte wurde sie zur bedeutendsten Lokfabrik der Schweiz und exportierte Maschinen weltweit.

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Am Bahnknoten Winterthur wurde 1871 die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) gegründet. Sie produzierte Tramsysteme, Zahnrad- und Dampflokomotiven für das In- und Ausland. Der boomende Eisenbahnsektor liess Belegschaft und Fabrikgelände stetig wachsen, wie die beiden Fotografien eindrücklich zeigen, ca. 1890.

Spuren in der Landschaft

Der Eisenbahnbau setzte in der Schweiz im internationalen Vergleich spät ein, nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann aber Tempo auf. Ohne nationale Koordination bauten die zahlreichen Privatbahnen ein dichtes Eisenbahnnetz auf, das den ökonomischen Überlegungen dieser Unternehmen folgte. Die Bahnlinien entwickelten sich zu Beginn primär entlang der Flusstäler, da hier die wenigsten landschaftlichen Hindernisse auftraten. Innovation und Rationalisierung im Bauwesen steigerten das Bautempo sukzessive. Galt beim Bau der 1847 eröffneten Linie von Zürich nach Baden die Durchbohrung des achtzig Meter langen Schlossbergtunnels als schwierigste Arbeit, wurde nur sieben Jahre später am Hauenstein bereits der erste Juradurchstich (2495 m) realisiert.

28 Jahre danach wurde der erste Alpentunnel auf Schweizer Boden erbaut, der gleichzeitig auch der längste Tunnel der Welt war. Das Untertunneln von Bergmassiven war dabei wohl die am wenigsten auffallende landschaftsverändernde Komponente. Anders war dies bei aufgeschütteten Bahndämmen, tiefen Einschnitten, neu errichteten Brücken und Viadukten: je hügeliger und gebirgiger eine Region war, desto mehr veränderte die Eisenbahn die Landschaft durch sogenannte feste Anlagen. Die 1897 eröffnete Eisenbahnbrücke Eglisau ist ein eindrückliches Bauwerk dieser Zeit, das den Rhein auf 63 m Höhe überspannt. Umgekehrt zeigt der tiefe Einschnitt bei Salgesch, der bis 1877 mit dem Bau der Linie Siders–Leuk entstand, dass grosse Erdmassen dem Bau von Bahnlinien Platz machen mussten.

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Die Eisenbahn war in ihren Anfängen auf möglichst wenig Steigung angewiesen: Täler wurden mit imposanten Brücken überspannt (Eglisau), Hügel per Einschnitt durchquert (Strecke Sierre–Salgesch), ca. 1895.

Im «Delirium furiosum»

Das neue Transportmittel Eisenbahn war im Vergleich zur Kutsche bequemer und bedeutend schneller. Die neue Antriebstechnik unterschied sich grundsätzlich vom vorindustriellen Reisen auf dem Landweg. Animalische Kräfte zeichneten sich durch unregelmässige Bewegungen aus, die Pferde ermüdeten nach einer gewissen Zeit und das Fortkommen folgte dem natürlichen Gelände. Die Bewegung der mechanisch angetriebenen Dampflokomotive war hingegen gleichförmig, schnell und unermüdlich. Die bewältigte Strecke wurde auf glatten und ebenen Schienen zurückgelegt, was Zeitgenossen mitunter als eine Art von Fliegen beschrieben. Aus der Medizin wurden jedoch Bedenken gemeldet. Die rasch abwechselnden optischen Eindrücke würden die Augen belasten und die rege Benutzung der Eisenbahn damit den Alterungsprozess beschleunigen. Im schlimmsten Fall seien sogar Gehirnerkrankungen («Delirium furiosum») zu befürchten:

«Ortsveränderung vermittelst irgendeiner Art von Dampfmaschine sollte im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passanten die geistige Unruhe, delirium furiosum, hervorzurufen. Selbst zugegeben, dass Reisende sich freiwillig dieser Gefahr aussetzen, muss der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen; denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinsaust, genügt, diese schreckliche Krankheit zu erzeugen.»

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Die Eisenbahn verdrängte die Fuhrhalterei vor allem aus dem Fernverkehr. Für die Feinverteilung waren Kutschen aber nach wie vor im Einsatz, wie die Aufnahmen von den Bahnhöfen Thun (oben) und Vevey zeigen, ca. 1871.

«…denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinsaust, genügt, diese schreckliche Krankheit zu erzeugen.»

Brotschelm und Bauernschreck

Eisenbahnbau und Industrialisierung schufen neue Arbeitsgelegenheiten, wurden aber etwa im Landwirtschaftssektor auch als störend empfunden. Die neuen Bahnlinien zerschnitten Landwirtschaftsflächen, allein bei der Strecke Zürich–Baden wurden über 1000 Landenteignungen vollzogen. Die lauten, dampfenden Züge, die bei ihrer Durchfahrt das Vieh aufschreckten, wurden auch als Bauernschreck betitelt. Ein anderer Schmähbegriff war «Brotschelm», da die Bahn gewisse Berufszweige in den Ruin trieb. So fielen althergebrachte Erwerbszweige wie die Fuhrhalterei der Entwicklung zum Opfer.

Vielerorts gelangten diese Berufe aber in eine neue Rolle, etwa als Zubringerdienst von und zu den neuen Bahnhöfen. Diese avancierten nämlich oft zu neuen sozialen und wirtschaftlichen Zentren. Der Aufstieg der Bahn führte auch zur Etablierung zahlreicher neuer Berufe wie Heizer, Maschinenmeister oder Streckenwärter. Neu ist hier wortwörtlich zu verstehen: Ausbildungsmöglichkeiten fehlten in der Schweiz noch gänzlich und so mussten Lokomotivführer, Oberkondukteure und Wagenmeister der Schweizerischen Nordbahn bei der Grossherzoglich Badischen Staatseisenbahn ausgebildet werden.

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Mit dem Zug von London in die Schweiz: Das Plakat der Jura-Simplon-Bahn zeigt die internationale Vernetzung der Bahn und richtet sich an englische Tourist:innen, bei denen die Schweiz hoch im Kurs stand, 1890.

Internationale Vernetzung

Der Bahnbau beschleunigte die touristische Erschliessung. Nach der Realisierung einer Ost-West-Achse im Mittelland wurden in den 1870ern Verästelungen vorangetrieben und Trassees bis an den Fuss der Hochalpen verlegt. Sion (1860) und Sierre (1868) bildeten beispielsweise die Ausgangspunkte für den Vortrieb ins Oberwallis nach Leuk (1877) und Brig (1878), Glarus für Linthal (1879), Luzern für Alpnachstad (1889) und Interlaken für Lauterbrunnen (1890). Gleichzeitig wurden vielerorts Bergbahnen gebaut, die primär touristischen Zwecken dienten.

Die steigenden Besucherzahlen verliehen dem Hotelbau Aufschwung. Positioniert waren die Hotels neben Bahnhöfen, Schiffsländen und Poststellen, wo die Klientel um- und ausstieg. Augenfällig wird die Verknüpfung von Eisenbahn und Tourismus auf Reiseplakaten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese sind sowohl Werbemittel wie auch Reisehilfsmittel. Auf den Plakaten waren damals oft Fahrpläne aufgedruckt oder aufgeklebt. Sie richteten sich direkt an ausländische Tourist:innen und visualisierten die Wege in die Schweiz. So ist etwa auf einem Plakat der Jura-Simplon-Bahn von 1890 die Reiseroute von London in die Westschweiz eingezeichnet.