Das Privatbahnzeitalter in der Schweiz: turbulent und einschneidend

Luzius Mäder
Die ersten fünfzig Jahre Eisenbahngeschichte der Schweiz sind geprägt von Visionen, Pioniergeist und einem neuen Verkehrsmittel als Motor der Industrialisierung. Die Eisenbahn bringt aber auch eine neue Moderne ins kleine Alpenland, die herausfordernde Änderungen der Lebensgewohnheiten bedeutet.
Seite 1 Spanisch Brötli Bahn 1847 Nachrichtenblatt SBB Jubiläum 1947
Die Spanisch-Brötli-Bahn mit Lok Nr. 1, «Limmat», Zeichnung von 1947.

Episode I: Verspätete Ankunft

Während die ersten Eisenbahnen in vielen europäischen Staaten bereits in den 1820er- und 1830er-Jahren ihren Betrieb aufnehmen, liegt der Fokus in der Schweiz zur selben Zeit noch auf Dampfschiffen und Pferdekutschen. Der positive Einfluss der Eisenbahn auf die Industrie ist bald sehr gross und verspricht wirtschaftlichen Aufschwung, was auch der Schweiz nicht entgeht. Erste, jedoch nie umgesetzte Eisenbahnprojekte im Mittelland und in der Romandie von Ende der 1830er-Jahre scheitern aber an der Finanzierung.

Erst 1847 erlebt die Eisenbahn hierzulande ihre Geburtsstunde. Die Schweizerische Nordbahn – besser bekannt als «Spanisch-Brötli-Bahn» – betreibt zwischen Zürich und Baden die erste vollständig in der Schweiz gelegene Eisenbahnstrecke. Die spanischen Brötli, eine Blätterteig-Spezialität aus Baden, können der reichen Zürcher Oberschicht nun jeden Morgen backfrisch direkt ins Haus geliefert werden. Dies führt zur Entstehung des Spitznamens.

Genau betrachtet, befährt bereits 1844 der erste Zug Schweizer Boden. Es handelt sich dabei um einen französischen Zug der «Compagnie du chemin de fer de Strasbourg à Bâle», der damals von der Grenze her Basel erreicht (nur knapp zwei Kilometer Strecke in der Schweiz selbst). So oder so, es ist geschafft: auch in der Schweiz ist die Eisenbahn angekommen. Warum nur hat es so lange gedauert?

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Der erste Bahnhof der Stadt Zürich. Im Vordergrund eine bescheidene Eisenbahnbrücke über die Sihl. Zeichnung von Johann Baptist Isenring, 1847.

Episode II: Private und Kantone bestimmen

Die politische Situation im Jahr 1847 ist pulverfassartig. Es existiert noch kein Schweizer Staat und keine Bundesverfassung. Die Kantone sind relativ autonom. Noch bevor 1848 die «moderne Schweiz» entsteht, mündet ein tiefgreifender Konflikt zwischen liberalen und konservativen Kräften im Sonderbundskrieg. Dessen Ende ist für die Entstehung des Eisenbahnwesens von zentraler Bedeutung. Die von nun an regierenden Parteien und Politiker fördern mehrheitlich den privaten Eisenbahnbau. Grund dafür ist auch der Unwille des jungen Bundesstaates, die gewaltige Aufgabe der Etablierung einer Staatsbahn mit den dazugehörigen immensen Grundinvestitionen zu übernehmen. Eine vom Bundesrat in Auftrag gegebene Expertise von zwei berühmten englischen Ingenieuren zeigt auf, wie die Eisenbahn in der Schweiz am effizientesten geplant werden soll.

«Der Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der Eidgenossenschaft bleibt den Kantonen beziehungsweise der Privattätigkeit überlassen.»

Dieser erste Artikel des ersten schweizerischen Eisenbahngesetzes von 1852 stellt die Weichen für die kommenden fünfzig Jahre. Private prägen fortan die Entstehung des Schienennetzes. Es folgen trotz Konflikten zwischen den Bahngesellschaften untereinander sowie mit den Kantonen wahre Boom-Jahre des Eisenbahnbaus.

Der Bund mischt sich wenig ein. Lediglich ein Vetorecht steht ihm zu, falls militärische Interessen betroffen werden. Bei der Linienwahl und den Entscheidungen, wo welche Strecke gebaut wird, geben die Privaten und die Kantone den Ton an. Systematische, in einem grösseren Kontext gedachte Planung: Fehlanzeige!

In den 1850er-Jahren werden die ersten drei der fünf grossen «Vorgängerbahnen» der SBB gegründet: die Schweizerische Nordostbahn (NOB), die Schweizerische Centralbahn (SCB) und die Vereinigten Schweizerbahnen (VSB). Profitorientierung bei der Streckenführung ist zwingend, um finanziell überleben zu können. Dieses System ist – aus der Perspektive des «Service Public» – allerdings schwach. Es gibt Doppelspurigkeiten bei Strecken, lange Wartezeiten aufgrund nicht abgestimmter Fahrpläne, und der Fahrkartenerwerb ist mühselig. Bis 1869 sind bereits erstaunliche 1345 Streckenkilometer gebaut. Nur bei 400 km davon sind Bau- und Betriebskosten aber angemessen verzinst und amortisiert. Der Rest ist defizitär. Kann der Staat ein Interesse daran haben, bei einem solchen System die Verantwortung zu übernehmen?

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Postkarten mit touristischen Highlights und Streckenplänen von drei der fünf grossen Privatbahnen des 19. Jahrhunderts: NOB, SCB und VSB, ca. 1905.

Episode III: Die Idee einer Staatsbahn keimt auf

Verschiedene grosse Namen prägen die Eisenbahngeschichte der Schweiz: Personen aus Politik und Wirtschaft, Bankiers sowie Ingenieure. Der «Eisenbahnbaron» schlechthin ist Alfred Escher – ein Verfechter der Privatbahnpolitik, Politiker, Bankier und Taktangeber bei der NOB, später auch bei der Gotthardbahn. Zu Beginn der 1860er-Jahre findet er in Bundesrat Jakob Stämpfli einen Gegenspieler. Stämpflis Argumente für eine Staatsbahn sind plausibel: Das Eisenbahnwesen muss für die Gesellschaft einen möglichst hohen Nutzen in Bezug auf Vernetzung, Anbindung dezentraler Gebiete, Preispolitik und Tarife, Fahrpläne und Sicherheit generieren. Durchsetzen kann er sich vorerst aber nicht. Nach einer wirtschaftlichen Baisse kommt 1872 das zweite Eisenbahngesetz. Die Kompetenzen verschieben sich von den Kantonen zum Bund, der neu die Konzessionen, sprich das Nutzungsrecht zum Bau und Betrieb von Eisenbahnstrecken vergibt. Das bedeutet auch Mitsprache bei Fahrplänen, Preisen und Investitionen.

«Das regelnde Wirken der Bundesgewalt zeitigte bald gute Früchte.»

Dieses Gesetz ist unter anderem stark geprägt von der Alpenbahnfrage. Wo soll die Eisenbahn die Schweizer Alpen queren? Lange gilt eine Strecke am und durch den Lukmanier als Favorit. Ein andauerndes, zähes Hin und Her endet 1869 mit dem Bundesbeschluss zum Bau der Gotthardbahn. Bei diesem gewaltigen Unterfangen zeigt sich erstmals, dass Kantone und Private allein nicht die benötigten Mittel aufbringen können. Der Bund springt ein, mit ihm finanzstarke ausländische Partner: Deutschland und Italien.

1871 ratifizieren die drei Länder einen Staatsvertrag. Der Bau der Gotthardstrecke beginnt, einschliesslich des damals längsten Tunnels der Welt. Damit beginnt auch die Geschichte der vierten grossen «Vorgängerbahn» der SBB – der Gotthardbahngesellschaft. Die Idee der Staatsbahn verschwindet auch auf dem vermeintlichen Höhepunkt des Privatbahnbaus nicht. Was waren denn die offensichtlichen Schattenseiten?

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Die Hauptlinien des Eisenbahnnetzes waren 1882 fast fertiggestellt. Karte aus «Graphisch-statistischer Atlas der Schweizerischen Normalbahnen», 1883.

Episode IV: Katastrophen, Fusionen und die Volksabstimmung

Die Geschichte rund um die Schweizerische Nationalbahn (SNB) prägt die zweite Hälfte der 1870er-Jahre. Gedacht als Gegenentwurf zu den wachstumsorientierten Monopolisten, hat die Nationalbahn keine Chance, auch nur annähernd das zu werden, was sie vorhatte: eine Volksbahn. Finanziert in erster Linie durch Gemeinden und Kantone, ist der Konkurrenzdruck zu hoch. Schon nach wenigen Jahren wird die SNB zwangsliquidiert. Die teilweise millionenhohe Verschuldung vieler Gemeinden bleibt noch Jahrzehnte als Negativposten in den Büchern stehen. Ein wahres Fiasko. Es zeigt sich, dass das Konzept «Privatbahn» nur unter besonders günstigen Voraussetzungen funktioniert.

Im 19. Jahrhundert werden in der Schweiz insgesamt ca. 100 verschiedene Eisenbahngesellschaften gegründet. Die SNB ist nur eines von vielen negativen Beispielen. Auch in der Westschweiz sind die Konkurrenz und der Finanzdruck so hoch, dass es 1890 zu einer Grossfusion kommt, aus der die Jura-Simplon-Bahn (JS) hervorgeht. Sie schliesst praktisch alle Bahngesellschaften vom Jura über die Waadt bis ins Wallis in sich ein und gilt als fünfte der grossen SBB-«Vorgängerbahnen». Wie alle anderen erlebt auch die JS in den 1890er-Jahren die letzte Blüte der Privatbahnen. Allerdings nimmt der Wille zur Modernisierung und Revision von Rollmaterial und Strecken stetig ab. Die Verstaatlichung wird aktueller, die Bahngesellschaften haben kein finanzielles Interesse mehr an grossen Investitionen.

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Oben: Die Dampflok B 2/3 Nr. 12, «Chillon» der Compagnie de l’Ouest-Suisse wurde 1857 von der Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe gebaut und 1898 ausrangiert, ca. 1870.

Unten: Katastrophe in Münchenstein, 1891.

Eine wahre Katastrophe ereignet sich 1891 in Münchenstein. Beim Einsturz der Bahnbrücke über die Birs sterben bei dem bis heute schlimmsten Eisenbahnunglück in der Schweiz 73 Personen. Es ist nicht das einzige schwere Unglück im Zusammenhang mit der Eisenbahn. Auch während des Tunnelbaus am Gotthard sterben mindestens 200 Menschen, ebenso beim ersten grossen Juradurchstich am Hauenstein (1857, 63 tote Tunnelarbeiter). Diese Tragödien sowie die uneinheitlichen Tarifsysteme und die schlecht abgestimmten Fahrpläne führen zu immer lauterer Kritik. Schon lange ist auch das ausländische Kapital in vielen Bahngesellschaften und damit verbunden Macht und Einfluss, die nicht in der Schweiz konzentriert sind, ein Dorn im Auge vieler Politiker. Die Verstaatlichung soll dem ein Ende bereiten.

1898 kommt es schliesslich zur Volksabstimmung darüber, ob der Bund die grössten Privatbahnen «zurückkaufen» soll. Die Möglichkeit dieses «Rückkaufsrechts» wurde bereits im Eisenbahngesetz von 1852 festgeschrieben. Mit einem klaren Resultat von 68 % Ja-Stimmen wird das Gesetz zur Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen gutgeheissen. Was bleibt aus dem Zeitalter der «Vorgängerbahnen»?

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Ein «Ja» für die SBB, Plakat mit Abstimmungsergebnis, 1898.

Epilog

Die Geschichten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind so vielfältig wie die Privatbahnen von Ost nach West, von Nord nach Süd und nicht zu vergessen, vom Tal in die Berge. Sie prägen das Land, die Landschaft, den Tourismus, die Siedlungsentwicklung, die Landwirtschaft, die sprunghafte Industrialisierung und Entwicklung von Qualitätsindustrien (Textilien, Uhren, Elektrotechnik, Maschinen), die Veränderung der Transportgeschwindigkeiten und damit der Lebensgewohnheiten in nur drei Generationen einschneidend. Diese Geschichten enden nicht mit der Gründung der SBB. Denn auch was ab 1902 – dem Gründungsjahr der SBB – folgt und bis heute nachwirkt, bleibt turbulent und für das kleine Alpenland in hohem Masse identitätsstiftend.