Die Gotthardbahn: drei Zeitzeugen erzählen

Marc Ribeli
1882 nimmt die Gotthardbahn den Verkehr auf der ersten Alpentransversale der Schweiz auf. Die von der Eidgenossenschaft, Italien und Deutschland lancierte Bahn entwickelt sich zur modernsten Privatbahn der Schweiz. Anhand von drei ganz unterschiedlichen Biografien tauchen wir in die Geschichte dieser stolzen Bahngesellschaft ein.

Airolo, 16. November 1873

Als Maria Pezzoli zum ersten Mal vom Dorf Airolo hört, löst dies bei ihr keine grosse Reaktion aus. Ein Bergdorf, in einem noch engeren Tal gelegen als ihr Heimatdorf Rovetta in der Provinz Bergamo. Doch dass Airolo plötzlich in aller Munde ist, hat seinen Grund: Seit gut einem Jahr gibt es hier eine grosse Baustelle und der Bedarf an Bauleuten, Handlangern und Mineuren ist gross. Ihr Ehemann Arcangelo hat als gelernter Mineur hier eine Beschäftigung gefunden. Seine Anstellung auf der Grossbaustelle ist ein Glücksfall, denn der Verdienst ist mit einem Tageslohn von 3.50 Fr. relativ gut, auch wenn die Arbeit hart und kräfteraubend ist. Sie selbst führt nebst der Hausarbeit zusätzlich einen kleinen Laden, der die Einkünfte etwas aufbessert. Viel bleibt dennoch nicht übrig, denn die Lampen für den Tunnelbau musste Arcangelo selber kaufen und für das Öl der Lampen muss er pro Tag 30 Rappen an die Tunnelunternehmung bezahlen.

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Italienische Arbeiter am Gotthardnordportal. Die Arbeiten im Tunnel fanden unter schwierigen sozialen und sanitären Bedingungen statt, 1880.

Zudem senden sie von Zeit zu Zeit einen Teil des Lohns an ihre Familien in Rovetta. Doch das gesicherte Einkommen ist der Grund dafür, dass Maria und Arcangelo beschlossen haben, sich in Airolo niederzulassen, wo sie vor einem Monat auch geheiratet haben. Es besteht sogar eine gewisse Aussicht, später bei der Gotthardbahn eine Anstellung zu finden, für Maria möglicherweise als Barrierenwärterin, für Arcangelo etwa als ständiger Bahnarbeiter oder Streckenwärter, Dienstwohnung inbegriffen. Das wäre kein schlechtes Upgrade zur Baracke, in der sie aktuell wohnen. 

Die Aussicht auf Arbeit und Verdienst hat auch andere dazu geführt, nach Airolo zu kommen: Arbeiter aller Art, Händler und Schaulustige strömen in grosser Zahl hierher. Sie haben das Dörfchen Airolo in eine kleine Stadt verwandelt, mit Restaurants und Wirtshäusern.

Für die Schweiz ist das Projekt von grosser Bedeutung und wird als international wichtigste Leistung im Schweizer Bahnbau angesehen.

Maria trifft hauptsächlich auf Landsleute aus den verschiedenen norditalienischen Provinzen; Arbeiter, Wirte, Metzger, Bäcker, Spelunkenbetreiber, Händler usw. mit ihren Familien. Sie wirken hier direkt oder indirekt an einem grossen Werk mit: der Realisierung eines Schienenwegs durch die Schweizer Zentralalpen. Ihr eigenes Land hat bei der Finanzierung des Tunnelbaus den grössten Teil der Subventionen übernommen, 45 Millionen Schweizerfranken. Die Schweiz und das Deutsche Reich stehen für je 20 Millionen. Ergänzend dazu kam ein dreistelliger Millionenbetrag von privater Seite.

Die im Entstehen begriffene Gotthardlinie wird es Italien ermöglichen, sich aus der Umklammerung des Alpenwalls zu befreien und sich mit dem Deutschen Reich und der Schweiz zu vernetzen. Die drei Länder haben dazu einen Staatsvertrag für den Bau der Gotthardlinie unterzeichnet. Für die Schweiz ist das Projekt von grosser Bedeutung und wird als international wichtigste Leistung im Schweizer Bahnbau angesehen. Zudem erhält das Binnenland nun einen direkten Zugang zum Hafen von Genua.

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Italienische Arbeiter am Gotthardnordportal. Die Arbeiten im Tunnel fanden unter schwierigen sozialen und sanitären Bedingungen statt, 1880.

Zürich, 26. Oktober 1876

Oberingenieur Konrad Wilhelm Hellwag kann in seinem Lebenslauf schon einige prestigeträchtige Bauprojekte vorweisen: sowohl bei der Schweizerischen Centralbahn als auch beim Bau der österreichischen Brennerlinie hatte er leitende Positionen inne. Er besitzt eine langjährige und vielseitige Erfahrung im Eisenbahnbau, insbesondere auch im Bau von Gebirgsbahnen. Doch nun hat er die technische Leitung für ein ganz besonderes Projekt angenommen, für das er nicht gezögert hat, seinen Wohnort nach Zürich zu verlegen. Es ist ein Projekt, das international für Aufsehen sorgt und seiner Ansicht nach das grösste technische Werk der Gegenwart überhaupt: der Bau einer Nord-Süd-Eisenbahnachse durch die Schweizer Alpen, der Gotthardbahn.

Ansonsten wird er gezwungen sein, die Behörden über die Missstände informieren zu müssen.

Die Linienführung aus seiner Feder wird es möglich machen, das unwegsame Gelände der Alpen zu durchqueren, und das bei einem minimalen Kurvenradius von 300 Metern. Brücken werden die tiefen Täler überspannen, Kehrtunnel werden dafür sorgen, dass die Bahn nicht mehr als 26 Promille Steigung überwinden muss. Bahnhöfe, Wärterhäuschen und Schutzbauten werden die Strecke säumen. Schliesslich wird ein grosser Tunnel die Alpennord- mit der Alpensüdseite verbinden. Seine Zunft hat in den letzten Jahren der Welt bewiesen, dass der Alpenwall kein Hindernis ist und den Siegeszug der Eisenbahn nicht aufhalten kann.

Sein Ehrgeiz ist ungebrochen und die Anerkennung, die er in weiten Kreisen geniesst, erfüllt ihn mit Selbstvertrauen. Sein Tatendrang wird aber in letzter Zeit von Sorgen getrübt, denn die Gesellschaft sieht sich mit finanziellen Engpässen konfrontiert. Es ist nicht lange her, dass sein Vorgänger Robert Gerwig aufgrund der finanziell angespannten Situation als Sündenbock herhalten und seinen Posten räumen musste. Und jetzt, eineinhalb Jahre nach Dienstantritt, hat sich die Lage nicht wesentlich gebessert.

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Oben: Der Bau einer Eisenbahn durch die Alpen erforderte präzise topographische Pläne. Ausschnitt aus den Übersichtskarten Flüelen–Biasca der Gotthardbahn, 1880.

Unten: Das Bauunternehmen L. Favre & Cie. baute ab 1872 den Gotthardtunnel von Airolo und Göschenen her. Originalplan aus dem Vertragswerk, 1872.

Seine Vorschläge zur Einschränkung und Vereinfachung des Bauprogramms und der Beschränkung auf den Bau der Stammlinie hat zwar eine leichte Entspannung gebracht. Doch muss das Unternehmen weiter sparen, was ihm zusehends Kummer bereitet. Die vornehmlich italienischen Mineure und Handlanger klagen über prekäre Arbeitsbedingungen. Die Unglücksfälle im grossen Tunnel mehren sich in solch bedenklicher Weise, dass es seine Pflicht ist, gegen diesen Mangel an Sicherheit Einspruch zu erheben. Die Sparmassnahmen der Bauleitung haben dazu geführt, dass immer weniger oder schlecht qualifiziertes Aufsichtspersonal zum Rechten schaut. Ein gesicherter Baubetrieb ist so nicht möglich und er sieht sich gezwungen, den Genfer Bauunternehmer Louis Favre zu ernstlichen Verbesserungen aufzufordern. Ansonsten wird er gezwungen sein, die Behörden über die Missstände informieren zu müssen.

3 1 Einladungskarte recto verso

Aus der Schweiz, dem Königreich Italien und dem deutschen Kaiserreich waren mehrere hundert Gäste zur Eröffnungsfeier der Gotthardbahn eingeladen. Alle Teilnehmenden erhielten eine persönliche Einladungskarte, 1882.

Luzern, 23. Mai 1882

Die Stadt hat sich für die Feierlichkeiten zur Eröffnung der Gotthardbahn herausgeputzt. Wehende Fahnen und Wimpel schmücken die Quais entlang des Seeufers. Obwohl Luzern die Zufahrtslinie an die Gotthardstrecke aus Spargründen noch verwehrt geblieben ist, haben hier vor zwei Tagen die mehrtägigen Feierlichkeiten begonnen. Die Eröffnung der Gotthardlinie ist ein herrliches Spektakel, das sich über fünf Tage erstreckt und internationale Beachtung erfährt. Die Liste der geladenen Gäste ist lang. Der Gesamtbundesrat, Parlamentarier und Würdenträger aus Italien und Deutschland, Vertreter des National- und Ständerats, des Bundesgerichts und Delegationen der Kantonalregierungen, die Direktoren der grossen Privatbahnen sowie Bankiers und Stadtpräsidenten sind alle nach Luzern gekommen und haben sich hier in den Grandhotels einquartiert. Und natürlich ist auch die Direktion der Gotthardbahn vor Ort. Alle habe sie eine persönliche Einladung erhalten. Auch er. Joseph Zingg hält kurz inne, als er seine farbig bedruckte Einladungskarte betrachtet, bevor er sie faltet und in seine Jackentasche schiebt.

Hier wird der ganzen Welt augenfällig gezeigt: Die Schweiz steht für Leistungsfähigkeit und die Schienenstrasse für das vollkommenste Verkehrsmittel der Gegenwart.

Dass er als Präsident der Gotthardbahndirektion an die Feierlichkeiten zu Eröffnung der Linie eingeladen ist, sollte eigentlich jedem klar sein. Aber was ist in diesen Tagen schon gesichert, wenn hochverdiente Männer wie Alfred Escher, Initiant und Financier des Projekts, nicht anwesend sein können?

Doch jetzt ist nicht die Zeit für Nachdenklichkeit, c’est la fête. Das gestrige Bankett im Hotel Schweizerhof für knapp 700 geladene Gäste war ein Festschmaus, seine Rede ging ohne Versprecher über die Bühne. Abgerundet wurde der Anlass durch ein grosses Feuerwerk über dem Vierwaldstättersee. Und heute steht schon der nächste Höhepunkt an:

Die Festfahrt von Luzern nach Mailand. Vor wenigen Minuten ist der Zug aus der Leuchtenstadt abgefahren. Die Wagen der Gotthardbahn werden gezogen von zwei bekränzten Dampflokomotiven des Typs E 2/2, die von der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur gebaut wurden. Die bequemen, zweiachsigen Holzkastenwagen fahren ruhig durch die Landschaft. Die Gotthardbahn hat aber den Anspruch, eine moderne Privatbahn zu sein, weshalb zukünftig Vierachswagen, Salonwagen und grosse Dampfloks angeschafft werden sollen. Wer hätte gedacht, dass diese einst durch die schroffen Täler des Urner Reusstals und der Leventina fahren würden?

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Oben: Die Gotthardbahn wird eröffnet. Die Fotografie zeigt den Festzug auf der Eröffnungsfahrt Luzern–Milano beim Zwischenhalt in Göschenen, 1882.

Unten: Die Gotthardbahn entwickelte sich zur technisch modernsten Privatbahn der Schweiz mit grossen Dampflokomotiven, Vierachs- und Salonwagen. Rollmaterialübersicht aus dem Abschlussbericht des Bundesrats, 1883.

Hier wird der ganzen Welt augenfällig gezeigt: Die Schweiz steht für Leistungsfähigkeit und die Schienenstrasse für das vollkommenste Verkehrsmittel der Gegenwart. Der Zug wird zuerst Immensee am Zugersee erreichen, danach via Goldau und Schwyz dem Urnersee entlang Richtung Altdorf fahren. Nach Erstfeld beginnt dann die spektakuläre Bergstrecke. Am späteren Vormittag wird der Zug in Göschenen ankommen. Dort wird es vor dem neu errichteten Bahnhofsgebäude – das auf einem aus Tunnelausbruchsmaterial künstlich aufgeschütteten Plateau vor den Toren des Dorfes errichtet wurde – für die Fahrgemeinschaft eine kleine Erfrischung und eine kurze Pause geben. Danach beginnt dann einer der eindrücklichsten Momente der Reise: die Fahrt durch den mit 15 km längsten Tunnel der Welt. Nach der langen Tunnelfahrt wird sich der Zug durch die Leventina schlängeln und den Monte Ceneri überqueren. In Lugano wird die Reisegesellschaft zum Dinner erwartet, bevor die Reise in den lombardischen Hauptort Mailand weitergeht. Zur Feier der Eröffnung der Gotthardbahn sind dort umfangreiche kulturelle Aktivitäten vorgesehen.

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Die Gotthardbahn lud am 22. Mai 1882 zum Festbankett im Schweizerhof in Luzern. Auf der Menukarte aufgeführt sind die Wappen der Schweiz, des Königreichs Italien und des Deutschen Kaiserreichs, 1882.