Schweizer Bergbahnen: Gipfelstürmer auf Schienen

Johanna Rustler
Die Schweizer Alpen zu erklimmen, war im 19. Jahrhundert eine Herausforderung, die visionäre Ingenieure ebenso anzog wie Touristen und Touristinnen mit Abenteuerlust. Was einst unüberwindbar schien, wurde durch bahnbrechende Technologien und spektakuläre Bahnprojekte möglich.
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Englisches Werbeplakat der Pilatusbahn, 1889.

Tourismus und Alpinismus

Jahrhundertelang war die Querung der Alpen ein fast unüberwindbares Hindernis. Für Reisende bedeutete der Weg in die Schweizer Bergregionen oft tagelange, beschwerliche Wanderungen. Postkutschen spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie waren vor der Eisenbahn ein wichtiger Bestandteil des Verkehrsnetzes und verbanden abgelegene Täler und Passstrassen wie den Gotthard- oder den Simplonpass. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte sich dies jedoch grundlegend: Mit dem Bau von Eisenbahnen und Bergbahnen wurde der Zugang zu den Alpen nicht nur einfacher, sondern auch komfortabler. Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit dem aufkommenden Alpinismus, der das Interesse an der Erkundung und Besteigung der Berge verstärkte. Menschen aus ganz Europa konnten nun die beeindruckende Berglandschaft der Schweiz entdecken – eine Entwicklung, die das Zeitalter des modernen Alpentourismus einleitete. Die Eröffnung der ersten Bergbahnen fiel mit dem Aufschwung des Alpentourismus zusammen. Es wuchs der Wunsch, die Alpen besser zugänglich zu machen.

Die Bergbahnen avancierten rasch zum Luxusgut – für viele Touristinnen und Touristen war es ein Abenteuer, sich bequem und stilvoll auf die Gipfel der majestätischen Berge befördern zu lassen.

Wer es sich leisten konnte, genoss die spektakuläre Aussicht und die frische Alpenluft. Um internationale Reisende anzulocken, investierten die Bahngesellschaften auch in gezielte Werbung im Ausland. Die Möglichkeit, die Schweiz und ihre Berge mit der Bahn zu erkunden, begeisterte. So wurde die Schweiz zum Mekka des Bergtourismus und die Bergbahnen zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor.

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Die Arth-Rigi-Bahn und die Zahnradbahn zwischen Montreux und dem Rochers-de-Naye. Beide sind ikonische Beispiele für die Erschliessung der Schweizer Alpen, ca. 1905.

Ingenieure und ihre Erfindungen

Die Entwicklung der Bergbahnen war eine technische Meisterleistung. Um die steilen Hänge zu überwinden, bedurfte es ausgeklügelter Antriebssysteme, die über das herkömmliche System hinausgingen. Die beiden wichtigsten Systeme, die dabei eine Rolle spielten, waren der Adhäsions- und der Zahnradbetrieb respektive auch die Kombination aus beiden.

Der Adhäsionsbetrieb ist die klassische Antriebsart der Eisenbahn. Dabei wird die Zugkraft allein durch die Reibung zwischen den Rädern und Schienen erzeugt. Für ebene und leicht ansteigende Strecken war dieses System im 19. Jahrhundert effektiv. Bei grossen Steigungen stiess der Adhäsionsbetrieb jedoch an seine Grenzen, da die Reibung nicht ausreichte, um die Lokomotive und ihre Wagen den Berg hinaufzuziehen. Besonders bei Nässe oder Eis konnten die Räder durchdrehen. Deshalb wurde oft die Kombination mit dem Zahnradbetrieb verwendet. Dieser galt als beste Lösung für steilere Strecken und wurde zum Schlüssel für die Erklimmung der Schweizer Alpen.

«Es gibt in diesem Lande keinen Berg, der nicht eine oder zwei Eisenbahnen wie Hosenträger auf seinem Rücken habe.»

Das bekannteste frühe Beispiel ist die Vitznau-Rigi-Bahn, die 1871 als erste Bergbahn mit Zahnradantrieb Europas in Betrieb ging. Die von Niklaus Riggenbach entwickelte Technik ermöglichte die Überwindung von Steigungen, die für den Adhäsionsbetrieb nicht möglich gewesen wären.

Ein weiteres innovatives System entwickelte Eduard Locher für die Pilatusbahn. Sein doppeltes Zahnstangensystem sorgte dafür, dass die Lokomotive auch bei extremen Steigungen von bis zu 48 Prozent sicher auf den Schienen blieb. Noch heute gilt diese Bahn als die steilste Zahnradbahn der Welt.

Carl Roman Abt verbesserte das Zahnradprinzip weiter, indem er ein flexibleres System entwickelte, das den Wechsel zwischen Zahnradund Adhäsionsbetrieb ermöglichte. Dieses System kam zum Beispiel bei der Schynige Platte-Bahn, aber auch weltweit zum Einsatz. Ebenfalls trug Emil Strub zur Weiterentwicklung bei, indem er ein robustes Zahnradsystem schuf, das sich auf vielen Alpenbahnen bewährte. Ein Beispiel dafür ist die Gornergratbahn. Strubs System zeichnete sich durch besondere Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen Witterungsbedingungen aus, was es für hoch gelegene Alpenbahnen ideal machte.

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Zeichnung des Ballonbahnsystems für den Lukmanier. Ein visionärer Entwurf, der eine Höhendifferenz von 1150 Metern überwinden sollte, aber nie realisiert wurde, 1869.

Neben diesen etablierten Systemen gab es auch visionäre Projekte, die ihren Weg nie in die Praxis fanden. So wurde beispielsweise eine «Ballonbahn» vorgeschlagen, bei der Ballons an Waggons befestigt werden sollten, um diese steilen Hänge hinaufzuziehen. Dieses Experiment war dazu gedacht, den Lukmanierpass zu überwinden, wobei eine Höhendifferenz von 1150 Metern hätte bewältigt werden müssen. Ebenso wurde eine Seilbahn zum Gipfel des Matterhorns geplant, die bis auf eine Höhe von 4485 Metern schweben sollte. Das Projekt von Leo Heer-Bétrix und Xaver Imfeld sah dabei eine maximale Steigung von 100 Prozent vor. Obwohl diese Konzepte letztlich nicht verwirklicht wurden, zeugen sie vom Erfindergeist und der Innovationskraft der Ingenieure jener Zeit.

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Gemeinsames Werbeplakat der Wengernalp- und Jungfraubahn, 1922.

Die schönsten Bergbahnen der Schweiz

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden in der Schweiz einige der schönsten und spektakulärsten Bergbahnen der Welt. Eine der bekanntesten ist die Gornergratbahn, die 1898 in Betrieb genommen wurde und bis heute eine der höchstgelegenen Zahnradbahnen Europas ist. Sie führt von Zermatt auf den Gornergrat und bietet ihren Fahrgästen einen atemberaubenden Blick auf das Matterhorn. Ein weiteres Wahrzeichen der Schweizer Bergbahnen ist die Jungfraubahn, mit deren Bau 1896 begonnen wurde. Sie führt von der Kleinen Scheidegg auf das Jungfraujoch, das als «Top of Europe» bekannt ist. Der Bau dieser Bahn stellte die Ingenieure vor immense Herausforderungen, da die extremen Witterungsbedingungen und die grosse Höhe innovative Lösungen erforderten.

Auch weitere Bahnen wie die Rigibahn, die Brienz-Rothorn-Bahn, die Monte-Generoso-Bahn und die Rochers-de-Naye-Bahn trugen zur touristischen Erklimmung der Schweizer Alpen im 19. Jahrhundert bei und wurden zu Ikonen des Eisenbahnzeitalters. Diese Bahnen bieten ihren Passagierinnen und Passagieren nicht nur spektakuläre Ausblicke, sondern auch unvergessliche Reiseerlebnisse.

Die Bergbahnen des 19. Jahrhunderts veränderten nicht nur die Art und Weise, wie die Menschen die Alpen erlebten, sie prägten auch die Wirtschaft und die Technologielandschaft der Schweiz nachhaltig. Bis 1899 wurden 65,5 Millionen Franken in den Bau von Bergbahnen investiert, was die enorme Bedeutung dieser Infrastruktur für die Entwicklung des Landes unterstreicht. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) in Winterthur, die als führende Herstellerin von Zahnradbahntechnik weltweit Lokomotiven und Systeme exportierte. Die SLM wurde so zu einem Innovationsmotor und wichtigen Wirtschaftsfaktor der Schweizer Industrie. Bergbahnen wurden zum Symbol für Fortschritt, Abenteuer und die Eroberung der Natur durch menschliche Ingenieurskunst. Eine Geschichte, die bis heute fasziniert.